oder: Tagträumen im Camp Nou
Urlaub in Barcelona. Und was macht der Fußballbekloppte nach erfolgreicher Flug- und Unterkunftsbuchung gleich als erstes? Richtig, er checkt die Spielpläne der ortsansässigen Erstligisten. Zur Auswahl stehen in Kataloniens Hauptstadt bekanntermaßen Espanyol und der FC Barcelona. Erstere warteten am einzigen Wochenende unseres Urlaubsaufenthaltes mit einem Heimspiel gegen den FC Málaga auf, Barca spielte auswärts beim UD Levante und davor unter der Woche in der Champions League gegen APOEL Nikosia. Die Wahl fiel bei diesem Angebot natürlich leicht und so hieß es Nikosia statt Nordhausen und Camp Nou statt HKS.
Die Tickets für die Partie ließen sich sehr bequem im Vorfeld online buchen und so ging es am Spieltag mit reichlich Herzklopfen und selbstverständlich mit FCM-Shirt bekleidet ab zu einem der ganz großen internationalen Fußballtempel. Neben der Aussicht darauf, Messi, Neymar, Xavi, Iniesta, Marc-André ter Stegen, Piqué und all die anderen tatsächlich einmal live spielen zu sehen, interessierte mich natürlich auch das ganze Drumherum. Wie funktioniert die Logistik in einem Stadion mit über 99.000 Plätzen? Wie ist das hier mit der Polizei? Wie sehen Barca-Kurve und Support aus? Wie wird das Spiel insgesamt inszeniert?
Das erste, was sofort und schon in der U-Bahn gen Les Corts auffiel, war die unheimlich große Menge an augenscheinlichen (ausländischen) Event-Fans. Gut, nun waren wir bei dem Spiel natürlich irgendwo selber welche, aber zumindest hatten wir auch ein sportliches Interesse an der Veranstaltung und wollten für knapp hundert Euro pro Ticket auch ein bisschen Fußball gucken. Andere hingegen verbrachten gefühlte 70% ihrer Zeit im Stadion damit, ein Selfie nach dem anderen zu schießen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit jeden beliebigen Spieler in Großaufnahme abzulichten. Das ist dann wohl die Schattenseite der Strahlkraft eines Vereins wie dem FC Barcelona, allerdings eine, die der Club mit Blick auf die Zuschauereinnahmen sicher billigend in Kauf nimmt. Irgendwann habe ich dann aber ernsthaft überlegt, zu wie vielen Selfies man bei uns auf der Tribüne wohl kommen würde, bevor es die erste etwas deftigere Ermahnung setzt…
Was die Logistik und die Spieltagspräsentation betrifft, fand ich es erstaunlich, wie nüchtern und gelassen da alles vonstatten ging (wobei die Spanier ja ohnehin eher entspanntere Zeitgenossen sind). Der nicht enden wollende Strom von Menschen, die die U-Bahn-Station ausspuckte, verteilte sich recht schnell und gut auf die verschiedenen Eingänge (und es gab viele, wirklich viele Eingänge) und vom Vorzeigen der Tickets am Eingang bis zu unseren Plätzen auf der Gegengerade im Unterrang, Höhe Mittellinie, dauerte es vielleicht maximal 10 Minuten. Da ich damit nicht unbedingt gerechnet und darauf gedrängt hatte, doch lieber etwas früher am Stadion zu sein, blieb uns nun noch eine gute Stunde, um uns umzuschauen und auch emotional so langsam anzukommen. Mittlerweile dämmerte es uns dann nämlich wirklich: Alter! Barca! Live! Gleich!
Wer nun vielleicht dachte: „Naja, Barcelona, Camp Nou und Champions League, da wird ja sicher vor dem Spiel mächtig Bramborium sein“ sah sich gewaltig getäuscht. Es passierte nämlich auf dem Spielfeld und drumherum bis zum Anpfiff (mit Ausnahme vom aufbrandenden Applaus der jeweiligen Fangruppen, als die Mannschaften zum Warmmachen einliefen): absolut nichts. Das war wirklich angenehm und angesichts des riesigen Kommerzapparats, der sich in Barcelona allgemein und rund um das Camp Nou im Speziellen ausmachen lässt bzw. vom Verein betrieben wird, tatsächlich überraschend. So machten sich die Spieler eben einfach warm, genauso, wie sich die Größten der Welt vor einem Spiel eben warm machen, und vor unserem Block tauchte dann auch irgendwann Deniz Aytekin auf, der die Partie leiten sollte und ebenfalls einige Aufwärm- und Lockerungsübungen absolvierte.
Das Stadion füllte sich nun langsam, die Champions-League-Hymne erklang, die Spieler liefen auf und pünktlich um 20:45 Uhr rollte der Ball. Sofort ging der Blick Richtung Barca-Kurve hinter dem Tor links von uns, nachdem die schräg über uns auf dem obersten Rang postierten APOEL-Fans schon mächtig laut auf sich aufmerksam gemacht hatten. Der Barca-Block bestand aus handgeschätzten 50, vielleicht 70 Leuten mit einigen Schwenkfahnen und Doppelhaltern, aber ohne Blockfahne oder ähnlichem. Der in dem riesigen Stadion etwas verloren wirkende Haufen verleitete sogar meine Frau denn auch gleich völlig trocken und ganz treffend zu der Aussage: „Die würden sich bei Euch doch in die Hose machen!“ Wo sie Recht hat…
Jetzt aber mal nicht falsch verstehen: ich habe a) überhaupt keine Ahnung, ob der Block bei Ligaspielen anders aussieht und inwiefern b) der Support im Europapokal bzw. der Champions League möglicherweise einfach ein anderer ist als in der Liga bzw. wie es sich mit der Kurvenkultur in Spanien generell verhält. Es wirkt halt eben nur ein wenig merkwürdig, wenn da – im Verhältnis zum gesamten Stadion und zum Verein, um den es geht – eine ziemlich kleine Truppe hinter dem Tor gelegentlich mal einen Trommelrythmus ablässt und hier und da mal einen Gesang anstimmt, der nur in Ausnahmefällen auf das ganze Stadion überschwappt. Übertragen auf HKS-Verhältnisse wäre das ungefähr so, als bestünde Block U aus den ersten 4 Reihen hinter dem Tor und müsste mit einer kleinen Blechtrommel und ohne Lautsprecher auskommen – womit die Jungs und Mädels vermutlich trotzdem noch 3x lauter gewesen wären. Mittlerweile habe ich aber immerhin herausbekommen, dass die Ultras des FC Barcelona seit 2003 Stadionverbot haben, was im Nachhinein einiges erklärt.
Fan- bzw. stimmungstechnisch war das Spiel also eher enttäuschend, wenngleich es schön war, zu beobachten, wie zu verschiedenen Zeitpunkten einfach mal das ganze Stadion spontan irgendwas anstimmte, was dann auch von den dauerkartenbesitzenden Nicht-Eventies enthusiastisch mitgesungen wurde. Naja, und bezüglich des Spiels selbst spricht das Ergebnis Bände: 1-0 gewannen die Hausherren, die individuell natürlich sensationell waren, sich aber gegen tapfer kämpfende und biedere Zyprioten lange schwer taten. Und während man zu Messi und Neymar nicht mehr viel sagen muss (auch wenn bei weitem nicht alles gelang ist das, was die da auf dem Rasen veranstalten, fast schon ein anderer Sport) fiel uns vor allem der 19jährige Sergi Samper ins Auge, der zuvor in der Saison 3 Zweitligaspiele für Barcas Zwote absolviert hatte und dann mal eben in der Champions League von Beginn an ein sensationelles Spiel ablieferte. Barca steht eben nicht nur für Messi und Kollegen, sondern auch für eine hervorragende und nachhaltige Jugendarbeit. Ob wir irgendwann mal so jemanden wie Samper bei den Größten der Welt im defensiven Mittelfeld werden aufdribbeln sehen?
Vielleicht noch ein, zwei Dinge zu Drumherum, die definitiv anders waren als das, was man von deutschen Stadien im Allgemeinen und dem Heinz-Krügel-Stadion im Besonderen so kennt: zunächst mal musste ich schockiert feststellen, dass im Camp Nou doch tatsächlich Popcorn (!) verkauft wird!
Was aber eigentlich nur die ausländischen Eventies kaufen, weil der einheimische, regelmäßige Stadionbesucher seinen Fußballsnack nämlich völlig selbstverständlich selbst mitbringt. Zwar ist Bier bzw. Alkohol generell offenbar untersagt, aber ein Sandwich und ein bisschen was zu knabbern aus Muttis Brotbüchse sowie eine mitgebrachte Flasche Wasser sahen wir auf den Rängen häufiger. Was wir nicht sahen (und es ist eigentlich schlimm, dass der Frau das zuerst und mir erst nach einem entsprechenden Hinweis auffiel): betrunkene, pöbelnde, peinliche MitbürgerInnen. Alles eben irgendwie eher gesetzter, eher gediegener, dabei aber (bis auf die Selfie-Trottel) nicht minder ernst und enthusiastisch. Im Gegenteil: auch bei Barca gibt es die notorischen Dauernörgler, die sich furchtbar aufregen, wenn Messi mal ein Ball verspringt und die ihrer Mannschaft in jeder zweiten Szene sämtliche fußballerische und taktische Kompetenz absprechen. Wobei ich mich dann auch gefragt habe, was das wohl mit einem macht, wenn man bei Barca über eine Dauerkarte verfügt und eben jede zweite Woche diese Ausnahmespieler aus nächster Nähe begutachten darf. Aber das ist vielleicht noch mal Stoff für einen eigenen Blogbeitrag.
Als das Spiel dann irgendwann aus war und die Mannschaften sich höflich ins Stadionrund klatschend in die Kabine verabschiedet hatten, ging es an den Abtransport. Auch hier wieder eine tiefenentspannte und pragmatische Herangehensweise, indem ganze 2 (!) kleine Polizeiautos eine Kreuzung sicherten und die Leute einfach über eine komplett gesperrte, vierspurige Hauptverkehrsstraße wieder Richtung U-Bahn trotteten.
Ein wirklich beeindruckender und natürlich auch sehr aufregender Fußballabend bei einem der größten Vereine der Welt endete für uns dann mit einem entspannten Abendspaziergang, bei dem es dann zumindest bei mir doch noch ein wenig wehmütig wurde: wie wäre es wohl, wenn statt der Anhänger von APOEL dort oben im Gästeblock die Größten der Welt angeflaggt hätten? Die Vorstellung, in diesem Leben jemals wieder ein Europacupspiel meiner Mannschaft zu sehen und sich ggf. wirklich irgendwann mal in einem sportlichen Wettkampf wieder mit dem Fútbol Club Barcelona zu messen, ist im Moment doch enorm weit weg. Stattdessen heißen die Gegner im Hier und Heute eben Meuselwitz und Nordhausen und muss man gegen Letztgenannte im Ligabetrieb tatsächlich sogar unter dem Label „Spitzenspiel“ in die Partie gehen (die, schlimmer noch, nur 1-1 endete). Damit man uns in Barcelona trotzdem nicht vergisst, habe ich sicherheitshalber einen kleinen Gruß dagelassen.
Denn wer weiß: wenn wir in diesem Jahr den DFB-Pokal holen und Barca sich nur für die Europa League… Naja. Für Tagträume gibt es wohl wahrlich schlechtere Orte als das Estadio Camp Nou.