SV Wehen Wiesbaden – 1. FC Magdeburg, 34. Spieltag, 1:2 (0:0)
Es gibt Momente im Stadion, von denen erlebt man in seinem Fan-Leben vermutlich nicht allzu viele. Als die Mannschaft nach reichlichen 90 Minuten an diesem 34. Spieltag jubelnd auf die Kurve zulief und plötzlich noch einmal alle Dämme brachen, war so ein Moment. Vielleicht werden wir später einmal sagen: „Weißt Du noch, damals, als wir in Wiesbaden gewonnen haben und mit einem Bein in der 2. Liga standen?“ Wahrscheinlicher ist aber, dass es einfach heißen wird: „Damals, in Wiesbaden, das war der entscheidende Schritt. Und wir waren dabei.“ Das sind so die Gedanken, die einem kommen, morgens um 6 und auf 5 Stunden Schlaf, weil an selbigen nach diesem Spiel eigentlich gar nicht zu denken war. Und irgendwo sitzt Sir Alex Ferguson und brummt ein „Football, bloody hell!“ vor sich hin.
Jens Härtel hatte sich für dieses potentiell vorentscheidende Spiel, von dem vorher alle betonten, dass es gar kein vorentscheidendes Spiel sein würde, für die derzeit üblichen Verdächtigen in der Anfangsformation entschieden. Eine kleine Überraschung gab es dann aber doch: Alexander Brunst gab sein Drittliga-Debüt im Magdeburger Tor und ersetzte den verletzten Jan Glinker. Vor ihm in der Dreierkette agierten Nico Hammann, Andre Hainault und Steffen Schäfer, im Mittelfeld begannen Tobias Schwede, Dennis Erdmann, Björn Rother und Nils Butzen, vorn wirbelten Philip Türpitz, Christian Beck und Marcel Costly.
Den besseren Auftakt in die erste Hälfte erwischten vor insgesamt 6.720 Zuschauern, von denen ein gutes Drittel den Größten der Welt die Daumen gedrückt haben dürfte, die Hausherren, die zunächst auch insgesamt die klarere Spielanlage zeigten. Außer der einen oder anderen Standardsituation ergaben sich aber keine zwingenden Abschlussmöglichkeiten. Gleiches galt für den Club, der so ein bisschen brauchte, um ins Spiel zu finden, ab Minute 10 aber öfter am Wiesbadener Strafraum auftauchte und allerdings bei den letzten Pässen häufig die Genauigkeit vermissen ließ. Auffällig auch in der Anfangsphase: Wenn es in der Magdeburger Hälfte gefährlich wurde, dann vor allem über die linke Defensiv-Seite, über die es Wiesbaden immer wieder gelang, sich in die Nähe des Strafraums zu kombinieren. Zielspieler dort war dann häufig Manuel Schäffler, der mehr als nur einmal erahnen ließ, dass er vor der Begegnung nicht ganz zufällig bei 19 Saisontreffern stand.
In Spielminute 16 die erste, richtig gute Gelegenheit für Wiesbaden: Nach einem Foul durch Andre Hainault an der Strafraumkante und einem Freistoß aus gefährlicher Position, der zur Ecke abgewehrt werden konnte, ist es Patrick Funk, der Alexander Brunst mit seinem Kopfball zu einer kleinen Flugeinlage zwang. Ansonsten blieb es beidseitig eher bei vielversprechenden, aber nicht konsequent genug zu Ende gespielten Ansätzen. Große Aufregung im Gästeblock dann nach gut 20 Minuten: Nach Pass von Türpitz kommt Marcel Costly auf der rechten Seite an den Ball, kann in den Strafraum eindringen und versucht, mit einem Haken an Alf Mintzel vorbeizugehen. Der bleibt einfach stehen und lässt Costly auflaufen – Schiedsrichter Jöllenbeck aus Freiburg entschied aber sofort auf „weiterspielen“. Knifflig.
Torchancen für Blau-Weiß mussten sich also anderweitig ergeben, wobei bis zur 34. Minute erst einmal nicht mehr so furchtbar viel Erwähnenswertes passierte. Dafür hatte sich der Gästebereich inzwischen ordentlich eingegroovt, nachdem man zu Beginn der Partie zunächst noch ohne koordinierten Support auskommen musste, inzwischen aber gefühlt doppelt Gas gab und die Mannschaft ordentlich nach vorne peitschte. In besagter 34. Minute die bis dato beste Chance für die Größten der Welt: Christian Beck war nach einer Flanke von Nico Hammann zum Kopfball gekommen, konnte Markus Kolke im Wiesbadener Tor aber nicht herausfordern. Übrigens eine Szene mit Seltenheitswert – hohe Magdeburger Bälle waren an sich bis dahin stets eine sichere Beute für die aufmerksame Wiesbadener Abwehr.
Die beste Phase der ersten Halbzeit mit mehr Ballbesitz und ordentlich Zug erwischte Blau-Weiß schließlich kurz vor dem Pausenpfiff, allein, wirklich torgefährliche Aktionen entstanden daraus auch nicht. Dafür sorgte Alexander Brunst in Spielminute 44 noch einmal für erhöhten Puls im Gästebereich: Einen völlig harmlosen Rückpass von Hainault legt er sich zu weit vor, geht dann außerdem gegen Maximilian Dittgen noch ins Leopold-Zingerle-Gedächtnisdribbling – und verliert die Kugel natürlich außerhalb des Strafraums. Die Flanke von Dittgen findet schließlich den Kopf von Stephan Andrist, der glücklicherweise aber das Tor nicht. Puh. Kann man mal so machen, sich aber eigentlich auch sparen. Und weil kurz darauf auch ein Abschluss von Philip Türpitz aus 16 Metern und der Nachschuss von Marcel Costly keinen Ertrag brachten, ging es torlos in die Halbzeitpause.
Dort muss Jens Härtel ganz offensichtlich die richtigen Worte gefunden haben, denn mit reichlich Zug, ordentlich Dampf über die rechte Seite und einem gut aufgelegten Marcel Costly startete man in die zweiten, mal wieder denkwürdigen 45 Minuten. Zunächst setzte Tobias Schwede einen Schuss nach Flanke des Winterneuzugangs am langen Pfosten noch über das Tor, nur um dann in quasi einer identischen Szene das Timing bei der Kopfball-Ablage auf Christian Beck zu verpassen, sodass Kolke sicher zupacken konnte. Einen Hammann-Freistoß auf das Tornetz (52.) später steht es dann endlich und zu diesem Zeitpunkt alles andere als unverdient 1:0 für die Größten der Welt. Erneut hatte sich Costly auf seiner Seite durchgesetzt und in den Sechzehner geflankt, wo Christian Beck in der Mitte diesmal mutterseelenallein stand und sich diese Gelegenheit selbstverständlich nicht entgehen ließ. Mit Wucht schädelte er die Kugel mittig ins Tor und der Gästeblock explodierte. „Auswärtssieg, Auswärtssieg!“ und das schon tausend Mal erlebte Tordelirium nebst Bierduschen und Gänsehaut.
Der Club war nun deutlich am Drücker, verpasste es zunächst aber, nachzulegen. Erst brachte die inzwischen gut erprobte Kombi Costly-Beck keinen Ertrag, weil dem Mittelstürmer am langen Pfosten ein paar Zentimeter fehlen, um den Ball nach scharfer Hereingabe erneut per Kopf über die Linie zu drücken, dann verpasst es besagter Marcel Costly nach einer Zauberfußball-Kombination mit Türpitz und Beck vor dem Wiesbadener Strafraum, den Ball ins Tor zu schlenzen. Dafür erhöhte Wiesbaden nun wieder den Druck, forderte man in der 64. Minute (zu Unrecht) einen Elfmeter für ein vermeintliches Foulspiel an Andrist im Strafraum und kam man ansonsten gegen einen tief stehenden und clever verteidigenden FCM aber einfach zu keiner klaren Torchance, sieht man von einer Hereingabe von links nach 69 Minuten, die Andre Hainault noch abfälscht und dadurch gefährlich macht, einmal ab.
Besser und vor allem effektiver machten es da schon die Gäste: besagter abgefälschter Ball führt zu einer Ecke, die Alexander Brunst fängt, um anschließend via Monster-Abwurf das 2:0 vorzubereiten. Sein Quarterback-ähnlicher Pass landet bei Philip Türpitz, der den nachrückenden Tobias Schwede mitnimmt. Im Laufduell mit Andrist bleibt Schwede Sieger und schiebt den Ball ganz überlegt am machtlosen Kolke vorbei zum zweiten Treffer des Tages ins Tor. Hinten nichts zulassen, vorne eiskalt zuschlagen – so spielt ein Aufsteiger!
Als man sich im Gästeblock gerade wieder einigermaßen sortiert hatte, stand es allerdings direkt schon 2:1 – weniger als 2 Minuten nach Schwedes Tor hatte Manuel Schäffler auf der Gegenseite zum Anschlusstreffer abgestaubt, nachdem Brunst einen Schuss von Patrick Breitkreuz nur prallen lassen konnte. Und Schäffler stand dann eben da, wo ein Mittelstürmer stehen muss und hatte nur noch wenig Mühe, den Ball hinter die Linie zu bugsieren. Also sollte es – mal wieder – ordentlich spannend werden, und spannend, so viel kann man sagen, wurde es dann auch. Wiesbaden nahm jetzt nämlich noch einmal ordentlich Fahrt auf und wurde, was im deutschen Profifußball wohl einmalig sein dürfte, nun auch von der insgesamt unheimlich anstrengenden Wiesbadener Stadionsprecherin tatkräftig unterstützt. „Steht auf, wenn Ihr Wehener seid!“ schallte es aus der Sprecherin-Kabine (!) über die Stadionlautsprecher – im Gästeblock wechselten sich ungläubige Blicke, schallendes Gelächter und fast schon hörbar rollende Augen ab. Was man ihr aber lassen musste: Sie zog den Gesang bis zum bitteren Ende durch.
Es ging nun hoch und runter und für objektive Beobachter musste das jetzt wohl ein recht unterhaltsames Spiel gewesen sein. Im Gästeblock regierten derweil eskalativer Gesang und fast schon mit den Händen greifbare Anspannung. Marius Sowislo war für Dennis Erdmann gekommen, später machte Türpitz noch für Richard Weil Platz und Christopher Handke kam für Marcel Costly. Alles auf Sicherung also, während vorne so ein bisschen die Entlastung fehlte und langer Ball um langer Ball in Richtung Magdeburger Tor segelte. Fünf, sechs Minuten noch. Hoher Ball hinter die Magdeburger Abwehrkette, Abschluss, aber Abseits. Freistoß Wiesbaden irgendwann, der zur Ecke für Wiesbaden wird. Geklärt. Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Schließlich dann die Ansage (nach dem gefühlt 300. „Kämpfen und siegen!“ der Stadionsprecherin – what the actual fuck?!): 3 Minuten Nachspielzeit. Daraus wurden 10. Oder 30. Keine Ahnung. Eine Ewigkeit jedenfalls. Noch ein Freistoß. Noch eine Ecke. Immer noch nicht Schluss. Pfostentreffer Wiesbaden. Dann der Abpfiff – und erst einmal völlige Leere.
Es war ganz eigenartig. Normalerweise müsste man in dieser Situation vollkommen ausrasten, stattdessen gab es zwar schon auch Jubel, gleichzeitig aber auch viele, viele gezeichnete Gesichter im Gästeblock. Irgendwie war klar: Das muss es doch jetzt eigentlich gewesen sein. Trotzdem hatten die letzten 10 Minuten so viel Substanz gekostet wie lange nicht. Ich für meinen Teil zitterte einfach nur wie Espenlaub. Das Ganze brach sich dann erst in unfassbarem Jubel Bahn, als die Mannschaft, wie eingangs geschildert, auf die Kurve zulief und damit die inoffiziellen Vorentscheidungs-Feierlichkeiten einläutete. Der Trainer wurde vor die Kurve gebeten und tat uns den Gefallen – ich glaube, er hat sogar ganz kurz mal gelächelt, als er den Gästeblock zum Jubeln animierte. Extremst großartig auch Florian Pick, der von Kaiserslautern nur geliehen ist, nicht mal spielte und es sich trotzdem nicht nehmen ließ, drei, vier Mal vor den Block zu laufen und zum gemeinschaftlichen „Hey, hey, hey!“ zu animieren. Es gehen einem ja langsam die Worte aus, um diese Mannschaft wirklich adäquat zu beschreiben.
Acht Punkte Vorsprung sind es jetzt auf Wiesbaden, vor dem Spiel des KSC am Sonntag gegen Rostock ganze 9 auf Platz vier. Mit einer Partie noch in der Hinterhand und einem mehr als nur machbaren Restprogramm kann auch ein 1. FC Magdeburg diesen Elfmeter eigentlich nicht liegen lassen. Oder um es mit den Worten von Christian Beck beim MDR zu sagen: „Wenn wir uns jetzt noch den Aufstieg versauen, dann können wir mit dem Fußballspielen aufhören.“
Football, bloody hell!
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