Oder: Wie chinesische Stadionbetreiber dem Begriff „alternatives Nutzungskonzept“ eine ganz neue Bedeutung verleihen
Nordhausen ist offenbar das Team in dieser Saison, auf das wir immer dann treffen, wenn ich entweder im Ausland bin oder gerade war. Das Hinspiel verfolgte ich im Sommerurlaub in Barcelona via Liveticker von der Dachterasse unserer AirBnB-Bleibe aus; als Kompensation für das verpasste Heimspiel musste ich mir notgedrungen die Champions League anschauen. Beim Rückspiel am 22. Spieltag war ich gerade von einer Dienstreise nach China zurückgekehrt und befand mich mit Sack und Pack im Umzugswagen Richtung Mittelhessen. Und hatte mitunter Schwierigkeiten, mich aufs Fahren zu konzentrieren, weil mir dauernd Tore unserer Mannschaft gepusht wurden. Fünf waren es am Ende – es gibt deutlich unangenehmere Ablenkungen. Damit beträgt der Abstand auf Rang drei nunmehr fünf Punkte und ist das Meisterschaftsrennen in der Regionalliga Nordost endgültig zu einem Zweikampf zwischen uns und dem FSV Zwickau geworden. Hier soll es jetzt aber weniger (eigentlich gar nicht) um die Partie im Nordhäuser Albert-Kuntz-Sportpark gehen als vielmehr darum, was man so erleben kann, wenn man sich in Shanghai auf Stadiontour begibt und auch ohne Livespiel versucht, einen Eindruck von der Fußballkultur im Reich der Mitte zu bekommen.
Dass nämlich auch auf einem dienstlichen Trip Richtung Asien der Fußball nicht ganz außen vor bleiben kann, war natürlich klar und so befand sich selbstverständlich neben den üblichen Tagungsklamotten auch der blau-weiße FCM-Schal im Reisegepäck. Leider erstreckt sich auch in China ein Spieltag von Freitag bis Sonntag und da es für mich am Anreise-Sonntag gleich Programm gab und ich Freitagmittag wieder losflog, ergab sich leider keine Möglichkeit, ein Spiel der Chinese Super League live zu sehen. Die Spielstätten von 2 der 3 Shanghaier Erstligisten (Shanghai Shenhua FC, Shanghai SIPG und Shanghai Shenxin) wollte ich mir aber trotzdem anschauen. Groß waren die Augen der anderen Tagungsteilnehmer, als ich mich am Donnerstagnachmittag von der gemeinsamen Stadtbesichtigung ausklinkte und auf die Frage, was ich denn vorhätte, wahrheitsgemäß antwortete, dass ich eine kleine Stadiontour unternehmen würde. Aber hey – die einen kaufen Souvenirs, ich mache eben Stadionfotos. Eine kurze Recherche im ultra-langsamen Hotel-WLAN ergab, dass sowohl die Spielstätte von Shanghai Shenhua als auch die von Shanghai SIPG mit der U-Bahn gut erreichbar, weil mit eigener Station versehen waren, also machte ich mich auf den Weg und steuerte zunächst das Hongkou-Stadion an.
Die Spielstätte fasst laut Wikipedia 35.000 Plätze und ist eigentlich eine Multifunktions-Arena, in der aber derzeit vor allem Fußball gespielt wird. Von der gleichnamigen U-Bahn-Station aus gelangt man äußerst komfortabel mit einem kurzen Fußweg direkt an das Stadion. Und das ist eben nicht nur einfach eine Sportstätte, sondern beherbergt gleichzeitig auch den Fanshop von Shanghai Shenhua, diverse Restaurants im äußeren Stadionumlauf, Büros irgendwelcher Firmen und natürlich die obligatorischen Fressbuden, die aber vermutlich nur an Spieltagen geöffnet haben. Angenehm auch: Man bekommt von vielen Ecken aus einen ganz guten Blick ins Stadioninnere und kann sich so zumindest vorstellen, wie die Atmosphäre an Spieltagen und bei ausverkauftem Haus so sein könnte.
So schaute ich mich also um und wunderte mich zunächst, dass offenbar auch im Stadioninneren einiges los war, obwohl augenscheinlich kein Fußballspiel anstand. Das nächste, was mir auffiel, waren Netze, die an 3 von 4 Stadionseiten bis hoch in den Oberrang liefen (auf dem Bild oben rechts so ein bisschen zu erkennen) und Schilder mit Zahlen, die in bestimmten Abständen auf dem Rasen platziert waren. Und richtig: Noch zwei, drei Aufgänge weitergelaufen und schon hatte man einen wunderbaren Blick auf – eine Driving Range im Stadion, auf der etliche Chinesen daran arbeiteten, ihren Abschlag zu verbessern! China bietet ja nun einiges an unerwarteten Erlebnissen, aber dass man ein momentan nicht bespieltes Stadion als Übungsplatz für Golfspieler nutzt, hat mich dann doch ein wenig aus den Socken gehauen.
Man stelle sich mal vor, was bei uns los wäre, wenn die Stadt plötzlich auf die Idee käme, in unserem Heinz-Krügel-Stadion für die Zeit unter der Woche eine Driving Range einzurichten. Und wenn dann womöglich irgendwelche Golf-Ultras anfragen würden, ob sie das Konterfei von Tiger Woods an den Sanitärtrakt hinter der Südtribüne… Aber ich schweife ab. Nachdem der erste kurze Schock verdaut war, dachte ich mir, dass die ganzen Golfspieler ja irgendwie ins Stadioninnere gekommen sein müssen und versuchte, es ihnen gleichzutun. Prompt die nächste Erkenntnis: Die Driving Range gehört zu einem (offenbar hochpreisigen) Fitness-Studio, das die zahlenden Mitglieder in einem offenen Bereich zwischen Spielfeld und Katakomben auch an allerlei Geräten ihre Körper stählen lässt. Meine kläglichen Versuche, der Dame an der Anmeldung mit Händen und Füßen zu verstehen zu geben, dass ich nur mal eben kurz reinhuschen und ein Foto von innerhalb des Stadions machen wollte, endeten in einem brüsken „Bùshì! Bùshì!“ („Nein! Nein!“) und dem deutlichen Fingerzeig, doch jetzt bitte wieder zu gehen. Also machte ich mich auf zum nächsten Stadion, allerdings nicht, ohne noch einen kleinen Gruß dazulassen.
Das nächste Ziel lautete „Shanghai Stadium“ (Heimstätte von Shanghai SIPG), eine relativ neue Arena (Baujahr 1997) mit einem Fassungsvermögen von 80.000 Plätzen, die beim Fußball laut Wikipedia auf 65.000 reduziert werden. Hier gestaltete sich das Herankommen schon deutlich schwieriger, was aber auch daran liegen mag, dass das Shanghai Stadium eben mehr als doppelt so groß ist wie die Heimspielstätte von Shanghai Shenhua. Dafür bot erneut der Stadionumlauf außen einiges, was man so vielleicht nicht unbedingt erwarten würde. Einen in die Stadionarchitektur integrierten, riesigen Supermarkt zum Beispiel oder eine Billardhalle; die offenbar in bzw. an chinesischen Stadien obligatorischen Luxusrestaurants und kleinen Imbisse muss ich vielleicht gar nicht noch einmal extra erwähnen. Schade war, dass die großen Aufgänge zu den Blöcken allesamt mit Gittern abgesperrt waren, aber nach einer Dreiviertel Runde um die Arena erklärte sich dem aufmerksamen Beobachter auch dieses Phänomen: Das Militär (oder Einheiten, die stark nach Militär aussahen) benutzte den oberen Stadionumlauf für allerlei Exerzier- und Fitness-Übungen! Auch hier wieder der Gedanke an unser Wohnzimmer und wie das wohl ankäme, wenn, sagen wir, die BFE der Bundespolizei das HKS als Truppenübungsplatz in Beschlag nehmen würde…
Und wenn wir schon mal bei alternativen Nutzungskonzepten für Fußballstadien sind, darf neben den genannten Dinge natürlich auch ein verhältnismäßig großes Hotel nicht fehlen:
Nach gut zwei Stunden Tour verschlug es mich dann schließlich wieder zurück in mein eigenes Hotel und so langsam galt es nun, an den Rückflug und natürlich auch das anstehende Spiel der Größten der Welt gegen Wacker Nordhausen zu denken. Auch wenn ich in China leider keinen Live-Fußball zu sehen bekam, waren die Eindrücke von den beiden Stadien wirklich vielfältig und interessant und lassen so manche kühne deutsche Idee („Lasst uns doch im Stadion mal ein Open-Air-Konzert veranstalten!“) noch mal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Andere Länder, andere Sitten eben und wer weiß, vielleicht klappt es bei der nächsten Reise dann auch mal mit einem Kurvenbesuch.
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