Hamburger SV – 1. FC Magdeburg, 28. Spieltag, 1:2 (1:0)
Augen auf. Okay, geht. Alles noch dran? Rechter großer Zeh: Check. Linker großer Zeh: Ebenfalls check. Arme, Beine, alles da. Stimme? Alles klar, heute besser nicht reden. Und dann immer die Gedankenblitzeinschläge: Lohkemper, 1:0. Abseits! Von wegen. Jatta, 1:0. Bülter! 1:1, diesmal wirklich. Vier Minuten Nachschlag. Tüüüüürpitz! Menschenmassen. Jubel, Gebrüll, Tränen. DIE NUMMER EINS DER WELT SIND WIR!
Ohne einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben, ist das vielleicht gerade der schönste Kater meines Lebens. Was für ein Fight, was für ein epischer Abend im Hamburger Volksparkstadion. Und was für ein Abriss. Liebe werdenden Eltern, nennt Euer Kind Philip! Oder Philipa. Und rechnet bitte nicht damit, dass das hier ein nüchterner Bericht über den vierten Auswärtssieg der Saison wird.
Dabei hatte ich eigentlich schon weit vor Anpfiff gar keine Lust mehr. Vom S-Bahnhof Othmarschen ging es mit dem Shuttlebus auf schmalsten Pfaden und im Stop and Go in Richtung Volksparkstadion. Eine Schnapsflasche machte die Runde, dem Geräuschpegel nach zu urteilen nicht die erste für einige. Text(un)sicher wurde irgendwas gegrölt, Hauptsache laut und Hauptsache gegen Jena. Und Hannover. Ob die nachher im Block auch so laut sein werden? Fenster im Bus: Fest verschlossen. Sauerstoffgehalt bei der Ankunft: Ungefähr 10%. Ein Traum.
Vor dem Einlass dann eine Traube Clubfans, die durch sechs Zugänge geschleust werden sollte. An jedem Zugang genau eine Person, die abtastete und sogar in Portmonees schaute, dafür aber ungefähr 5, die einfach rumstanden und zuguckten, wie 6.000 Blau-Weiße tröpfchenweise aufs Stadiongelände gelangten. Irre. Wer denkt sich so etwas aus? Hinter uns und rechts neben dem Eingang außerdem je ein Wasserwerfer, die Eskalation war offenbar eingeplant. Gut, dass es ruhig blieb (soweit ich das beurteilen kann jedenfalls).
„Für unsere Stadt…“
Inzwischen hatte die Aufstellung die Runde gemacht. Alles wie immer, nur, dass Alexander Brunst für Giorgi Loria das Tor hütete. Die Viererkette mit Perthel, Müller, Erdmann und Rother, davor Kirchhoff, Preißinger und Laprevotte im Mittelfeld. Die Offensivabteilung hörte heute auf die Namen Lohkemper, Bülter und Türpitz. Am Aufgang zu den Blöcken derweil Hinweise auf eine Choreo: Rote und grüne Fahnen für die erste Halbzeit, Papptafeln für die zweite. Das würde großartig werden. Noch etwa eine Stunde bis zum Anpfiff.
Schließlich laufen die Mannschaften ein, was aber, zumindest an meinem Standort, von reichlich roten Fähnchen verdeckt wird. Dazu, wie später auf diversen Bildern zu sehen sein wird, ein großes Spruchband vom Oberrang mit der Aufschrift „Für unsere Stadt“. Sauber, Block U! Laut ist es auf jeden Fall schon mal hier unter dem Dach von Block 14A. Links nebenan werden die Handys gezückt. Willkommen im Zoo. Haltet Eure teuren Endgeräte mal schön fest, nicht, dass wir sie nachher noch gesangsorkanmäßig wegpusten. „Wir steigen auf und Ihr steigt ab!“, „Von Hamburg bis nach Liverpool!“ und: „Hier regiert der FCM!“
Konnte losgehen.
Die erste Viertelstunde gehörte den Größten der Welt, bereits nach fünf Minuten suchte Felix Lohkemper zentral am Strafraum den Abschluss, platzierte seinen Schuss aber links neben das Tor. Der Club versteckte sich hier nicht, sondern spielte mutig nach vorn, kam aber nur selten mal wirklich durch. In der siebenten Minute kam dafür eine Ecke halbhoch in den Strafraum, nach reichlich Gewurschtel konnten die Hausherren den Ball aber aus der Gefahrenzone befördern. Nach 13 Minuten war es Timo Perthel, der sich über links durchspielen und den flachen Pass in die Mitte geben kann. Ein Abnehmer fand sich allerdings nicht, sodass weiterhin das 0:0 von der Anzeigetafel leuchtete.
In der 14. Minute dann mal der HSV mit einer Offensivaktion. Lewis Holtby wird im Strafraum schön freigespielt, seinen Abschluss ins lange Eck hat Alexander Brunst im Nachfassen. Die Gastgeber legten nun einen Zahn zu, wurden über Douglas Santos und Bakery Jatta gefährlich (17.). Die blau-weiße Defensive war aber aufmerksam, konnte diese Situation lösen und sich direkt wieder in die Offensive orientieren. Das war ja überhaupt auffällig im Spiel: Früh stand man den Gegnern auf den Füßen, klug lief man Passwege zu, immer wieder gelangen so Ballgewinne im Mittelfeld und im Angriffsdrittel. Keine Frage: Der Club legte hier einen richtig guten Auftritt hin und konnte den Hamburger Sportverein schon so ein bisschen beeindrucken. Wer hätte das gedacht?
Der völlig verdiente Lohn der Mühen dann in der 22. Minute: Preißinger war so 30, 35 Meter vor dem Tor an den Ball gekommen und hatte Felix Lohkemper in Richtung Grundlinie geschickt. Der kommt auch an die Kugel, umkurvt Julian Pollersbeck und schiebt aus spitzem Winkel zur überhaupt gar nicht unverdienten Führung ein! Dann aber die große Ernüchterung, nachdem ringsum im Block alle geknuddelt waren: Der Linienrichter hatte die Fahne gehoben und Abseits angezeigt, der Treffer zählte nicht. Das durfte doch nicht wahr sein! Nutztiere Deutscher Fußball-Bund!
Blau-Weiß ließ sich dadurch aber keinesfalls aus der Ruhe bringen und fuhr in Spielminute 25 einen schönen Konter: Preißinger nimmt Lohkemper mit, der wiederum Philip Türpitz sieht. Die Nummer 8 sucht die Lücke und findet: erneut Rico Preißinger, der Pollersbeck im HSV-Tor mit einem schönen Schlenzer auf die rechte, obere Ecke zu einer Flugeinlage zwingt. Schick, sowohl vom Schützen als auch vom Keeper, nur leider aus Gäste-Perspektive ohne Ertrag.
Dafür passierte dann das, was man in dieser Saison schon so häufig erleben musste: Der Club macht das Spiel, der Gegner aber das Tor. Eine halbe Stunde war rum, als eine merkwürdige Foulentscheidung zu Ungunsten der Größten der Welt zu einem Freistoß für Hamburg führt. Douglas Santos bringt den Ball aus dem rechten Halbfeld, Rother legt unglücklich ab auf Jatta und der vollstreckt schließlich eiskalt ins linke, untere Ecke. Das war wieder so ein Ding mitten ins Herz; kurz bevor die Synapsen aber auf „okayalleswieimmervielleichtholeichmirnochwaszutrinken“ schalten konnten, peitschten auch schon wieder Gesänge von der Gästekurve aus durchs Volksparkstadion, das mit 49.820 Zuschauern gut gefüllt daherkam. Hier war richtig Feuer drin, im Gästeblock sowieso, und die Mannschaft zahlte mit Einsatz, Willen und Leidenschaft doppelt und dreifach zurück. Rückstand in Hamburg? Pfft. Das kann doch einen Clubfan nicht erschüttern!
Vor dem Pausentee dann noch mal zwei gute Szenen für die Größten der Welt: Um die 36. Minute herum segelten der Hamburger Defensive gleich drei Ecken um die Ohren: Die erste faustet Pollersbeck aus der Gefahrenzone, nach der zweiten rauscht der Ball an allen Guten vorbei und von einem Hamburger Bein ins Toraus, die dritte endet in einem Kopfball von Björn Rother, der aber schwer zu nehmen war und daher ohne Druck in den Händen des Hamburger Torhüters landet. In der 44. Minute ist es dann der Schotte David Bates, der für den HSV in höchster Not klären muss: Philip Türpitz hatte sich über rechts mit mächtig Tempo in den Strafraum gearbeitet und dort auf Rico Preißinger abgelegt. Der Hamburger Innenverteidiger hatte den Braten aber gerochen, rauschte im letzten Moment dazwischen und konnte den Ball tatsächlich aus dem Strafraum schlagen.
Dann war Pause und trotz des Rückstandes war das deutliche Gefühl: „Hier geht heute was! Weiter, einfach immer weiter!“
Chancenlos war man hier auf gar keinen Fall und irgendwann musste doch dieser verdammte Ausgleich fallen! Und während man versuchte, den Puls einigermaßen zu beruhigen und die Stimme zu schonen, wurden weiße und blaue Pappen verteilt.
„…und unsere Farben“
Selbige gingen mit dem Wiederanpfiff nach oben, „Und unsere Farben“ stand nun auf dem Spruchband, das da vom Oberrang hing. Irgendwelche anderen Fanszenen gebrauchen Fäkalreferenzen, wir feiern halt Stadt und Verein. Die Größten der Welt, fürwahr, fürwahr. Nur der FCM!
Es dauerte dann gute fünf Minuten, bis wieder etwas zu sehen war. Dafür war aber auch gleich mächtig Alarm vor dem Tor von Alexander Brunst und eigentlich hätte nach 52 Minuten auch schon alles vorbei sein können. Schiedsrichter Bastian Dankert hatte nach einer resoluten Grätsche von Tobias Müller gegen Pierre-Michel Lasogga zunächst auf Strafstoß entschieden, wandelte diesen Pfiff nach Rücksprache mit dem Mann an der Linie dann aber in einen Eckball um. Puh. Eineindeutig war die Szene sicher nicht, aber gerade deshalb wäre die Elfmeterentscheidung möglicherweise auch vertretbar gewesen. Sei es drum; die Ecke kam in den Sechzehner und spätestens jetzt rechtfertigte Alexander Brunst seine Nominierung vollumfänglich: Mit einer starken Parade lenkt er den Abschlussversuch von Bates ins Toraus. Pikant: Zwischen Bates und Brunst stand noch der Arm von Müller. Riesenglück für den Club, aber hey: Irgendwann sind wir dann eben auch mal dran. Sorry, HSV!
Nicht entschuldigen musste sich die Truppe in der 60. Minute für den verdienten Ausgleich, der diesmal auch nicht durch irgend so eine Fahne wieder kaputt gemacht wurde. Der an diesem Nachmittag überragende Rico Preißinger mit einem schicken Steilpass auf Marius Bülter, den David Bates nicht halten kann. Kurz geschaut, flach abgeschlossen und dann ab in die Kurve, wo mehrere Dutzend Menschen gleich ganze Reihen tauschten und in orgastischster Manier den Ausgleich feierten. „Das ist meine Stadt!“ – Vollgas jetzt!
In der 64. Minute dann noch mal großer Jubel, als Christian Beck für Felix Lohkemper den Platz betrat. „Beck is back“ und „Beck for good“-Wortspiele erspare ich mir an der Stelle mal, aber natürlich war es großartig, den Kapitän nach seiner schweren Verletzung aus dem Duisburg-Spiel wieder auf dem Rasen zu sehen. Wenig mitbekommen haben dürften von alldem unterdessen ein paar Leute im Block hinter dem Tor, die sich da ein kleines Scharmützel mit HSV-Fans und einigen Ordnern lieferten. Wer weiß, was da der Auslöser war, letzten Endes ist sowas aber genauso ärgerlich wie die dann folgenden „Ost-Ost-Ostdeutschland“-Chants zur Aktion. Brauch’ ich persönlich nicht. Also Augen lieber wieder geradeaus und Fokus auf den Support, der inzwischen einigermaßen krasse Formen angenommen hatte. Wahnsinn, was hier schon wieder los war! Das war unser Abend, da konnte, nein, da durfte es keinen Zweifel dran geben. Feuerwerk!
Was dann folgte, lässt sich mit dem Wort „utopisch“ wohl am besten beschreiben. Gemeint ist damit weniger die Einwechslung von Ignjovski für Rother (66.) als vielmehr der Fight, den beide Mannschaften hier nun ablieferten. Lücken boten sich kaum, Ballgewinne wurden beidseitig schnell wieder zu Ballverlusten, jeder Zentimeter Rasen hatte inzwischen Furchen, es ging hin und her. Ein Schreckmoment dann nach 83 Minuten: Nach einem langen HSV-Freistoß, den Brunst sicher fangen konnte, war Jan Kirchhoff liegen geblieben und musste dann auch das Feld verlassen, für ihn kam Steffen Schäfer. Hoffen wir, dass unser Mittelfeldstratege sich nichts Ernsthafteres getan hat.
Unten am Spielfeldrand leuchtete dann irgendwann eine 4 auf der Anzeigetafel. Satter Nachschlag also. Nochmal der FCM im Vorwärtsgang und Hinspiel-Torschütze Narey, der Timo Perthel legt und dafür Gelb sieht. Wir schreiben die 93. Minute. Freistoß. Der Ball hoch und weit in den Strafraum. Van Drongelen mit der Abwehr genau vor die Füße von Philip Türpitz. Viel Zeit war ja nicht mehr, also einfach feste druff.
Kennt Ihr das, wenn sich Szenen so in Zeitlupe abspielen?
Türpitz jedenfalls mit der Schussbewegung. Der Ball auf dem Weg in Richtung Tor. Der Einschlag. Also, im Tor. Und völlige, vollständige und hemmungslose Eskalation. Für das, was sich dort im Block abspielte, habe ich ernsthaft keine Worte. Immer noch nicht. Ausnahmezustand, Ekstase, Delirium greifen es nicht mal ansatzweise. Konnte das wirklich wahr sein? Ein Tor in der Nachspielzeit? Ein entscheidendes? Für uns?
Die restlichen Szenen laufen in meiner Erinnerung fassungslos-entrückt vor meinen Augen ab. Ein Pfiff. Eine Mannschaft, die in die Kurve gestürmt kommt. Ein Dennis Erdmann, der in die Eckfahne beißt. „DIE NUMMER EINS DER WELT SIND WIR!“
Auswärtssieg in Hamburg. Leckt mich doch alle am Arsch.
Fazit:
Da machst Du vor dem Spiel noch Sprüche wie „Ey, stell’ Dir das mal vor: Wir gewinnen hier in Hamburg und sind live dabei!“ oder: „Damals, ey, Meuselwitz… Noch gar nicht sooo lange her. Und jetzt stehst Du hier im Volksparkstadion. Krank. Und geil.“
Und dann gewinnen wir das Ding.
Es ist ja immer noch völlig unklar.
Ich will auch gar nicht mehr so viele Worte verlieren. Dafür, dass ich selbst noch gar nicht richtig verarbeiten konnte, was da gestern eigentlich passiert ist, sind es eh schon wieder viel zu viele geworden. Nur eins noch:
Für Momente wie diese da in der 94. Minute und nach dem Abpfiff tun wir uns den ganzen Mist doch immer wieder an. Es war episch. Und legendär. Und vielleicht werde ich einfach nie wieder schlafen.
Danke, FCM!
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